Beate Conrad Rauschen unseres Ursprungs – Eine Rezension Noise of Our Origin, Rauschen unseres Ursprungs von Dietmar Tauchner. Zweisprachige Ausgabe: Englisch und Deutsch von Dietmar Tauchner. Red Moon Press, Winchester, USA 2013. ISBN: 978-1-936848-27-0. Nicht paginiert. Diese Zusammenstellung moderner Kurzgedichte in der Tradition japanischer Kurzlyrik präsentiert sich mit einfachem, doch zugleich geschmackvollem Layout in Schwarz, Grau und Weiß, mit farbigem Einband und in praktischem Taschenbuchformat. Der österreichische Autor Dietmar Tauchner hat fünfundsiebzig seiner allerbesten Haiku für sein neues Buch „Rauschen unseres Ursprungs“ sorgfältig ausgewählt. Viele davon sind in der deutschsprachigen und in der internationalen Haiku Szene anerkannt und wurden ausgezeichnet. Die Gedichte sind in vier Kapiteln zusammengestellt und jedes Kapitel beginnt mit einer schlichten, fast haiga-artigen Schwarzweißgrafik, die von Hans Hohenegger stammen. Die Haiku-Segmente „Dem Geheimnis zugewandt“, „Zwielicht der Zeit“, „Duft der Sterne“ und „Rauschen unseres Ursprungs“ sind als Kapitelüberschriften eingesetzt. Als soche geben sie der Gedichtsammlung eine Art innere Ordnung. Aber diese ist nicht notwendigerweise eine chronologische Ordnung, sondern eher ein dimensionaler Zusammenhalt, der die vormals übliche traditionelle Jahreszeitenordnung solcher Haiku-Sammlungen ersetzt. In seinen Gedichten malt Tauchner Bilder des 21. Jahrhunderts: Eine Welt der Wissenschaft, die in den Weltraum hinein expandiert, aber wo außerhalb der Natur die scheinbar menschengemachte Welt mit ihren technologischen und kulturellen Errungenschaften, inklusive der Gedankenwelt, tief in den Naturgesetzen verwurzelt bleibt. Somit entwickelt die Vorstellungskraft poetische Bilder, die jenseits der projizierten Realität liegen und ein neues Bewußtsein der verschiedenen Realitätsebenen widerspiegelt: „unzählige Atome verbunden für eine Zeit um ich zu sein“ Das Haiku vermittelt uns einen flüchtigen Blick in eine animierte Welt unterhalb der sichtbaren Oberfläche. Eigentlich existiert die Idee des Atoms schon seit der Antike, aber es wurde als ein real existierendes erst in Einsteins Tagen bewiesen. Nun wird unser provisorisches Selbstkonzept der soliden Materie mit bestimmter Form und Einheit mit der mikrokosmischen Sicht der Teilchenphysik neu konfrontiert. Das Haiku-Bild eines ständig in Bewegung befindlichen Mikro- und Makrokosmos erzeugt hier die Illusion einer sich zusammenziehenden und ausbreitenden ewigen, aber undifferenzierten Gegenwärtigkeit. Als solche verbindet sie westliche mit fernöstlicher Kulturerfahrung. Denn die ewige undifferenzierte Gegenwärtigkeit spiegelt das Tao wider, ein allem unterliegendes Prinzip des absichtslosen Werdens, worin Menschen eine eher kleine Rolle spielen. Außerdem erinnert uns das im Haiku Gezeichnete an Heraklits „Panta rhei“ (alles fließt) und an Platos „kosmische Bewegung“, die wiederum Gottfried Wilhelm Leibniz zu seinem Axiom des „Natura non facit saltus“ (Die Natur macht keine Sprünge) führten. Es bedeutet, daß alles Natürliche und seine Eigenschaften sich nur graduell verändern. Selbst die Evolutionsbiologie und die Quantenmechanik basieren auf diesem Prinzip, bis ihm mit der Idee des „Quantensprungs“ ein gleichwertiges Prinzip zur Seite gestellt wurde. Diese Form der interdisziplinären Anspielung auf die Geschichte der Naturphilosophie und -physik – die zusammen mit der Astrophysik die älteste Wissenschaft menschlicher Geschichte ist – erweitert die im Haiku gestellte Frage nach dem Verständnis menschlicher Existenz. Denn das Haiku zeigt uns, wie die Natur unsere eigene Natur und unser Bewußtsein als untrennbarer Teil des Raumzeitgefüges darin formt. Das folgende Haiku verdeutlicht, wie wortwörtlicher Realismus als Stilfigur eine neue (Verständnis)Dimension erzeugt, indem die Grenze zwischen den verschiedenen Realitätsebenen, des Wahrscheinlichen und des Hypothetischen verschwimmen: „Apfel Wurmloch zum Kern“ Ein Wurm frißt sich in einen Apfel hinein und hinterläßt dabei Spuren in der Form eines Lochs. Doch während des Fressens verwandelt sich der Apfel in ein lebhaftes Bild ganz anderer Natur, indem eine Welt sich in eine andere öffnet. Zunächst haben wir ein symbolisches Bild, da der Apfel mit einer Vielzahl an positiven und negativen kulturellen Konnotationen von der Bibel über die germanische und griechische Mythologie, bis zum deutschen Märchen geladen ist. Doch der jugendlichen Suche der Menschheit, mit ihrem unersättlichem Drang nach verbotenem Wissen und Erkenntnis, eröffnet der rottende Apfelkern das Tor zu Newtons Schwerkraftentdeckung und zu Albert Einsteins Welt, in der das Wurmloch, die Einstein-Rosen-Brücke, eine hypothetische topologische Eigenschaft im Raumzeitgefüge darstellt. Das so abgebildete Loch einer zweidimensionalen Fläche wird zu einer dreidimensionalen Röhre oder zu einem Tunnel und taucht auf einer zweidimensionalen Fläche an einem anderen Ort wieder auf. Dadurch entsteht eine Abkürzung durchs Raumzeitgefüge. Wurmlöcher kommen in vielen Fiktion-Genres wie der literarischen, der des Film- und Fernsehens und in virtuellen Spielen vor, wo sie hauptsächlich eine Reisemethode in andere Welten und Zeiten abgeben. Da das Wurmloch auch eine der Metaphern zur allgemeinen Relativitätslehre begriffen wird -- selbst wenn die String-Theorie durch die Einführung der Mehrdimensionalität dem Wurmloch besser gerecht wird -- bleibt es dem Leser überlassen, die Geheimnisse der Wahrscheinlichkeit und der Relativität zu lösen. Ein weiteres senryûeskes Haiku zeigt, daß das westliche Gegenwartshaiku als Literatur seine eigenen neuen kulturellen Bedeutungen, seine eigenen Assoziationen und Bilder hervorbringt, und dabei humorvoll und ernst zugleich ist: „wo kein Mensch / je zuvor war / Metallschrott“ Die meisten Leser rund um den Globus sind mit den Bildern der ersten Mondlandung (Apollo Lunar Missionen), mit Satelliten und mit der internationalen Raumstation, auch mit dem Hubble-Teleskop vertraut und dürften auch die Anspielung, ein Zitat, auf die Einführungsworte der Science-Fiction-Serie "Star Trek" verstehen. Während der Mensch die letzten weißen Flecken der Erde erkundet und sich in den Weltraum hinein ausbreitet, holen ihn die Konsequenzen seiner Handlungen in einem plötzlich geschrumpften Weltraum ein, oder wie soll sonst der Metallschrott dorthin und noch weiter gekommen sein? Tauchners Haiku sind am effektivsten, wenn das "korrelierende Objekt" in Form eines schlichten und zurückhaltenden Bildes ausgedrückt wird, das weniger durch abstrakte Logik bzw. Sprache, aber mit schlichter Bildersprache erreicht wird, da dieses eben eine poetische Stimmung schafft, die den Leser tief berührt: „Sommerende / der Hügel hinter dem Haus / Steg zu den Sternen“ ist so ein wohlgeformtes Gedicht, wo kürzere Tage und das Ende mit dem langsam herannahenden Himmel dichter rückt, was sich auch in den s-Lauten ausdrückt. Zusammen mit der vergehenden Zeit, ist das Friedvolle gepaart mit leicht melancholischer Stimmung deutlich spürbar und ebenso die Anziehungskraft und das Staunen, an etwas Großem, Geheimnisvollem und Schönem teilzuhaben, das unsere Vorstellung übersteigt, aber dennoch gleich in unserer Nachbarschaft zu liegen scheint. Das Schöne und das Flüchtige spiegelt sich hier im schlichten und klaren Sprachgebrauch wider, insbesondere im Einsatz der hauchenden H-Stab- und Mittelreime des Mittelsegments und dem bewußt hart klingenden St-Stabreim von „Steg“ und „Stern“. Dietmar Tauchner ist bekannt als einer, der die Kurzgedichtform Haiku bis an und über seine Grenzen hinaus auslotet. Dabei verbindet er Altes und Neues, die realistische Skizze mit dem Abstrakten und Hypothetischen. Sein Schreibstil mischt Realismus, Expressionismus, Surrealismus und bisweilen Symbolismus. Somit wird dem Leser ein ästhetisches Erlebnis zuteil aus „Traum und Wirklichkeit einer Nacht, die selten dichter dem Tageslicht nähert als Morgen- und Abenddämmerung“ (John Stevenson). Indem der Leser dem „Rauschen unseres Ursprungs“ lauscht, wird vor ihm allmählich eine Welt entstehen, die unendlich und geheimnisvoll ist, und die ihn als solche berührt, so daß sich seine Sichten zu Einsichten wandeln. Derartig ist die Qualität, die vom Haiku als literarisches Genre zu erwarten ist.