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bregengemme

            SAGRA DELLA CIPOLLA

            Eine Reise in die Reiskammer Italiens, die Poebene, 2001





            in einem zug nach mailand
            verlasse ich im mai jenes land
            das mich vor jahren entband
            in dem ich aufwuchs und früh verdarb
            das ich meiden möchte
            für mindestens eine woche
            um meine geschäfte ruhen zu lassen

            ich schleppe meinen po
            in dessen ebene
            und setze ihn zwischen
            turin und urin
            in reisfeldern aus
            wo er in ruhe
            sein geschäft verrichten kann




            weg vom ideal zum engagement

            9.45 uhr bruck an der mur passiert
            ein paar im pensionsalter setzt sich zu mir
            die abteiltür lässt sich nicht schließen
            die dame flucht über den zug und die luft
            weil beides ihr eine erkältung bescheren könnte
            er "die bahn hat so ein hohes defizit
            und dann funktioniert nichts"
            eine defizitäre logik denke ich
            "die bahn sollte in den balkan verkauft werden
            aber sie ist unter dessen niveau"
            der weg vom ideal zum engagement
            ist nicht immer lohnend merke ich

            klagenfurt kurz vor 12 uhr
            die klagen des paars über bahn und welt
            sind keineswegs fort
            nur ich höre sie nicht mehr
            habe sie teils verschlafen teils ignoriert
            eine asiatin vermutlich japanerin
            betritt lächelnd das abteil
            sie führt einen riesigen kunststoffkoffer mit sich
            der ihr gewicht bestimmt aufwiegt oder übersteigt
            sie versucht diesen vergeblich
            verfolgt von den scheelen blicken des bitteren paars
            obenhin zu verstauen
            ich helfe ihr das ding nach oben zu hieven
            was ihr ein lächelndes "danke" entringt
            sie gehört nun zu uns
            und wir schweigen mit ihr
            sie versteckt sich hinter ihrem lächeln
            und bald hinter ihrem reiseführer
            so dass sie fast nicht mehr wahrgenommen wird

           
            15.37 uhr venedig endstation
            wir haben einander verlassen
            das triste paar verließ uns in triest
            die japanerin schleppt ihren koffer
            was-weiß-ich-wohin
            und ich denke wieder an
            meine gescheiterte liebe
            und an meine verbindung
            meine weitere bahnverbindung
            denke weiters dass
            reisen weniger ankommen bedeutet
            als vielmehr
            hinter-sich-lassen




           
            ein fahrgast hat sich in mein abteil begeben
            er ist mir freilich fremd
            und ich frage mich
            was wir miteinander teilen?
            atemluft und eine allgemeine spezifikation
            als mensch
            das ist schon eine menge

            padova - vicenza
            zwei junge italiener vielleicht siebzehn
            steigen zu und beginnen sofort
            mit ihren mobiltelefonen zu hantieren
            routiniert und maskulin
            welche probleme sie später
            auch immer haben werden
            zumindest keines
            frauen rum zu kriegen

            ich hänge zwischen vita activa
            und vita contemplativa
            scheinbar luftleer im raum
            ich habe kein mobiltelefon
            die atemluft ist fast verbraucht
            und erinnere mich an eine frau
            die nur meine verstellungen mochte
            wenn überhaupt
            sollte ich das den burschen sagen?
            aber wie? ich habe kein mobiltelefon

            die gegenwart meiner gedanken
            hat keine zukunft
            der zug rattert weiter
            mit oder ohne meine gedanken
            mit oder ohne mich
            der zug lässt sich nicht stoppen
            er rast vom ideal zum real-
            fall




           
            b. holt mich von milano centrale ab
            ich trage eine purpurrot-marineblau gestreifte kappe
            als erkennungszeichen das sogar in diesem
            extrem frequentierten bahnhof auffällt

            eine odysee beginnt
            mit der metro nach gessate
            dann mit der bahn weiter nach mortara
            wo l. uns abholen soll
            wir warten in einem café
            ein komischer verschnitt
            zwischen irish pub & cafeteria
            zwei stunden lang auf l.
            der laut b. mehr ist
            als nur ein freund

            l. trudelt mit einem alten rostigen fiat
            pünktlich um 22 uhr ein
            wir werden einander vorgestellt
            "capice niente?"
            "just a bit" antworte ich
            und erinnere mich plötzlich
            an einen satz rilkes

            "nah ist nur inneres"





            gegen 9.30 uhr verlasse ich b.s wohnung
            um mir den ort breme anzusehen
            breme liegt in der lombardei
            im herzen der poebene
            inmitten des großstadtriangels
            milano-torino-genova
            das land ist flach und schwül
            die menschen leben einfach
            und ohne große attraktionen
            entweder arbeiten sie auf den reisfeldern
            oder in der metropole milano
            die bauten bremes zumeist gehöfte
            sind im typisch südlichen stil gehalten
            sind tribute an die sonne
            deren attribut
            die passion des moments
            und somit die hingabe an die vergänglichkeit
            ist

            breme hat keine sehenswürdigkeiten
            und das ist in gewisser weise eine
            es gibt zwei lokale und drei krämer
            eine kleine schmucklose kirche
            und ein großes rustikales phlegma
            (das erst ertragen werden muss
            insbesondere als melancholiker)
            ein phlegma
            das jedoch oft kompensativ
            in lust übergeht
            und diese will bekanntlich
            nur ewigkeit





            die hitze verstärkt die gerüche
            und selbst die geräusche
            ich lausche und rieche
            ich lese kierkegaard

            "an der insistenz des subjekts
            auf seine subjekthaftigkeit
            müssen alle ansprüche
            des allgemeinen scheitern"

            ich schaue zum fenster hinaus
            auf die enggewundenen gassen
            die menschenleer vor sich hin liegen
            auf er-fahrung wartend
            wie langweilig der graue asphalt
            der mittagshitze trotzt

            kurz vor 14 uhr
            b. müsste bald da sein




            b. kommt von der arbeit zurück
            und sprudelt wie ein gysir
            allerdings nur verbal
            sie wärmt in der nachmittagshitze
            pasta von vorgestern auf
            und redet unauf-
            hörlich

            wir essen und machen uns fertig

            l. erwartet uns in seinem biotop
            in dem vornehmlich wildenten leben
            hier fanden die beiden die liebe
            das biotop ist symbol ihrer verbotenen liebe
            verboten
            weil l. verheiratet ist
            und zwei kinder hat und breme ein nest ist
            in dem nichts verborgen bleibt

            hier im bioptop im biotop breme
            dürfen sie ihre liebe leben
            im verborgenen offen zeigen

            ich erfahre das später
            und zeige mich wenig beeindruckt
            weil ich schon viele biotope gesehen habe
            deshalb fragen sie mich bald
            ob ich mich langweile
            "nein" sage ich
            während meine hände
            von moskitos anschwellend zerstochen werden

            diese errichten ihr eigenes biotop
            und richten mich
            meiner lüge wegen
            wenn man so will



           
            ich gehe zur einzigen bank im ort
            nicht um mich zu setzen
            sondern um geld zu wechseln
            die eingangstür ist verschlossen
            obwohl angestellte an den schaltern
            im inneren der bank zu sehen sind
            und eine reguläre öffnungszeit vorliegt
            ich rüttle an der tür
            übersehe das an der klinke
            mit elektronisch leuchtenden lettern
            angebrachte "alto"

            der kassier gewahrt und lässt mich
            zur überraschend auftauchenden und ebenfalls
            fest verschlossenen zweiten tür vor
            aber nicht weiter
            ich bin wie ein ungeschickter räuber
            zwischen zwei türen gefangen
            kann weder überfallen
            noch flüchten

            ich rufe "cambio!?"
            und befürchte ein "polizia!" seinerseits
            der kassier zögert
            bis er endlich eher einen touristen
            als einen bankräuber
            gefangen zu haben meint
            "no cambio no visa"

            er lässt mich wieder ins freie
            wo ich bemerke dass ich soeben
            die "banca populare nuove"
            vergeblich betreten wollte

            unverrichteter dinge und
            mit gerade noch gerettetem leumund
            muss ich mich noch von einigen einheimischen
            bestaunen und von deren hunden bekläffen lassen
            bevor ich per pedes
            zum angeblich naheliegenden castillo
            aufbreche ich werde schnell
            des weges unsicher und wegen
            der hitze mache ich bald kehrt

            carabineris beäugen mich skeptisch
            vielleicht hat der kassier sicherheitshalber
            doch alarm geschlagen
            ich fühle mich schuldig und bin nur froh
            dass die carabineri mich ungehindert
            in die irre laufen lassen




           

            ich bin & setze mein walnussähnliches
            pilzkonsistentes eingebilde
            im reisfeldzirkel von breme aus
            einem ort der kein zentrum hat
            aber einen kleinen befahrenen platz
            auf dem sporadisch markt gehalten wird

            ich bin & radle die dunstenden
            reisfelder entlang
            spüre meine arschbacken
            des harten sitzes und der holprigen straße wegen
            die schwüle hitze ermüdet mich schnell
            ich kehre auf halbem weg nach irgendwo um
            begebe mich schweißgetränkt in ein café
            bestelle einen cappuccino
            der zweitausend lire kostet
            für die nachwelt notiert

            ich bin & koste das schmackhafte
            getränk und ziehe mich in mein walnussähnliches
            pilzkonsistentes eingebilde zurück

            ich träume davon
            über ein fixes und doch
            mobiles zentrum zu verfügen
            das weit über breme hinaus reicht




           
            eine am kirchturm
            sakral thronende taube
            preist meine säkulare bestimmung
            am marktplatz an

            cappuccino zu schlürfen in mafaldas
            fremd zu bleiben
            und allein zu sein

            ich warte
            auf den abflug der taube
            ich warte
            auf mich




           
            l. kann seine frau nicht verlassen
            obwohl er beteuert das zu wollen
            obwohl sie einander nicht mehr lieben
            und nicht ökonomisch von einander abhängig sind
            die gesellschaftlichen konventionen verbinden zwanghaft

            er würde gerne in fünf jahren
            wenn er in rente geht
            mit b. in deren heimatland polen auswandern
            dort eine neues leben beginnen
            bis dahin müsse sie sich gedulden

            b. hat ihre konkurrentin am bahnhof
            gesichtet und sie gegrüßt
            der rückgruß blieb ihr verwehrt
            ein affront
            der b.s schuldgefühle entfachte

            "l'll never fall in love again" singt
            sie lauthals mit ella fitzgerald
            schwankend zwischen verzweiflung und hoffnung
            ich will ihr sagen
            dass die sexuell motivierte liebe
            und nichts anderes ist jene
            zwischen mann und frau
            bloss ein trick der natur ist
            uns am leben zu erhalten
            mittels der lust
            die unser leid kurzfristig
            vergessen machen soll

            liebe ist lust
            die zu leid führt
            das habe ich erst vor kurzem
            wieder erfahren

            tatsächlich sage ich ihr
            dass sie sich entscheiden muss
            sonst ändert sich nichts
            und sie leidet weiter
            "hoffnung ist feigheit"
            wusste günther anders

            b. geht zur arbeit
            und ich zu bett
            mit einem satz von marcel proust
            der sinngemäß lautet
            "obwohl ich nicht mehr hoffe
            so begehre ich doch"





            unterhalte mich mit einem jungen paar
            aus argentinien das bei b.
            in untermiete wohnt

            argentinien sei eine oligarchie
            einiger großer wirtschaftskonzerne
            die regierung sei korrupt
            und existiere de facto nicht
            beide seien sie schauspieler aus rosario
            sie seien nach italien emigriert
            in das land ihrer großeltern
            weil es hier nur besser werden könne

            er arbeitet irgendwo in milan
            sie in irgendeiner fabrik in der umgebung
            sie ist schwanger
            das kind kommt zum denkbar
            ungünstigsten zeitpunkt
            es fehlt an geld
            und sozialer sicherheit

            irgendwie
            würden
            sie es
            schon schaffen

            ich versuche ihnen mut zu machen
            während er mir schon die
            zweite portion pasta mit parmesan offeriert





            wir besuchen die krypta von breme
            angeblich nahm hier ein geheimer
            unterirdischer gang seinen anfang
            vom mönchs- zum nonnenkloster

            der tod
            der geheime weg
            zur paarung und zeugung
            zum leben?

            auf offener straße treffen wir
            einige fidele alte damen
            darunter die noch sehr vitale f.
            die mein aussehen lobt

            das schöne
            kann nur aufgrund des verfalls
            wahrgenommen werden
            auch wenn das vielleicht
            nicht der wahrheit entspricht
            denke ich mir
            kryptisch





            ich sitze wieder in mafaldas
            gemeinsam mit einigen alten männern
            die zur mittagszeit
            tief in ihren lebensabend versunken scheinen
            als ein schwarzer mercedes vorfährt
            ein kleiner beleibter kerl steigt aus
            mit schwarzem haar und vollbart
            schwarz gekleidet
            er betritt das café
            und wird merklich mit vorbehalt begrüßt

            später erfahre ich
            dass er tatsächlich oder rumorös
            mit einem 15jährigem mädchen zusammen lebe
            das er offiziell adoptiert habe
            aber inoffiziell als nutte halte
            sie sei vollkommen von ihm abhängig
            er schicke sie auf den strich
            und nicht in die schule
            sie hänge nicht an den lippen der lehrer
            sondern an der eichel seines schwanzes
            und an seinem portemonnaie
            das sie ihm großteils füllt

            mafia und camorra
            seien nicht nur ein problem
            siziliens und kalabriens
            sondern eines in ganz italien
            man müsse etwas unternehmen
            aber wer sei man schon

            die alten herren
            die dies ruchbar machten
            sagen zum abschied noch
            "hoffentlich wirst du nur gutes
            über uns erzählen"
            ich bejahe
            weil ich ihre gastfreundschaft genoss
            und die menschen kenne





            "sagra della cipolla" das fest der roten zwiebel
            steht als feier des jahres
            mitte juni in breme fest

            ein hund lugt aus einem giebelfenster
            über die anrainenden dächer
            unbekläfft passiere ich parterre
            ein taubenflug betäubt mich
            die taube bescheißt uns
            mich und den giebelhund und die zwiebelhäupter
            denke ich schwindelnd

            mein kopf
            eine rote zwiebel
            die von der sonne gehäutet wird

            lasst uns feiern
            endlich




            nirgendwo sahen wir uns schon
            du kannst dich erinnern
            deine blauen augen
            taxieren mich
            obwohl ich meistens in dein dekolleté starre
            während der bahnfahrt
            von milano per venezia

            irgendwie wissen wir
            dass uns lebenslinien verbinden
            leiblich und seelisch
            ich spreche dich nicht an
            um nicht billig zu klingen
            der flur vor den abteilen
            ist überfüllt wir stehen uns
            im dichten gedränge
            einer menschenmasse
            ganz nahe

            ein tramper quasselt dich an
            du sprichst freundlich aber kurz mit ihm
            er steigt in verona aus
            nun sind wir wieder allein im gedränge
            niemand mehr zwischen uns
            jetzt ist die zeit gekommen
            blicken worte folgen zu lassen
            aber mein mut wiegt schwer
            wie meine lippen
            die einander bedrücken
            wir schweigen

            enttäuscht oder nicht
            begibst du dich
            in einen anderen waggon
            um dort vielleicht
            mein eloquentes alter ego zu treffen








            epilog

            rote sonne
            das gewicht

            meines lebens








©  2010 Dietmar Tauchner